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Fachgespräch mit Prof. Dr. Andrea Koppitz und Frank Spichiger von der Fachhochschule Westschweiz zum Thema Demenz

Am 25. August findet in Fribourg die Fachtagung zur Person-Zentrierten Betreuung und Pflege – End-of-Life Care & Dementia Care – statt. Ausgerichtet wird der Fachanlass von Professorin Dr. Andrea Koppitz in Zusammenarbeit mit weiteren Wissenschaftler:innen.

Aus dem Pflegezentrum Lindenfeld in Suhr nehmen Erich Weidmann sowie Sindi Taner als Fachreferenten teil. Erich Weidmann ist Wohnbereichsleiter Aabach und Sindi Taner obliegt die Fachführung desselben Wohnbereichs, auf welchem Menschen mit fortgeschrittener Demenz leben.

Das Gespräch soll Antworten auf ein grosses Themenfeld geben, sowohl aus wissenschaftlicher, als auch aus praktischer Perspektive. Es soll als Gedankenanstoss dienen und zum Reflektieren einladen, denn gemäss Studien wird Demenz das zukünftig am häufigsten verbreitetste Krankheitsbild der immer älter werdenden Bevölkerung sein. Ebenso soll es eine Würdigung an die engagierten Mitarbeitenden des Lindenfelds sein.

Prof. Dr. A. Koppitz, F. Spichiger im Gespräch

Frau Koppitz, was braucht es, um gute Demenzarbeit leisten zu können, und zwar auf den Ebenen der Organisation, der Führung und des einzelnen Mitarbeitenden? Bitte differenzieren Sie aus wissenschaftlicher und praktischer Perspektive.
Prof. Koppitz: Es braucht erstens eine person-zentrierte Arbeitsorganisation. Unterschiedliche, stadiengerechte Milieuangebote für die Menschen mit Demenz, Reizregulation, demenzgerechte Personalausstattung, person-zentrierte Qualitätsmanagement-Prozesse. Ressourcen, Prozesse und Personen, basierend auf person-zentrierten Werten, zu organisieren und zu steuern.

„Person-zentrierte Pflege verbessert nachweislich die Situation der Menschen mit Demenz.“

Prof. Dr. A. Koppitz

Es braucht zweitens Leadership Fähigkeiten. Menschen, die andere Menschen mit der eigenen Vision zu inspirieren und zu motivieren vermögen. Dazu zähle ich auch inspirierende Worte. Leadershipperson verfügen jedoch zusätzlich über Werte und person-zentrierte Überzeugungen. Sie leben ihre person-zentrierte Haltung mit ihrem eigenen Handeln vor.
Es braucht drittens Mitarbeiter:innen, die den Mut aufbringen, auch Dinge liegen zu lassen, um sich auf die Menschen mit Demenz zu fokussieren.

Was braucht es Ihrer Meinung nach für eine Teamkultur, um dem Auftrag einer ganzheitlichen Demenzpflege gerecht zu werden?
Prof. Koppitz: Es braucht eine wohlwollende, reflektierte, neugierige und kreative Kultur.

Was bedeutet gute Demenzpflege auf das Individuum bezogen – auch mit Hinblick auf das Thema Weiterbildung?
Prof. Koppitz: Die Realität für die «Benutz:innen» der Weiterbildungen ist herausfordernd. Die Mitarbeitenden sehen sich konfrontiert mit einer Vielzahl an Konzepten und Modellen, die auf teilweise sehr abstrakten Ebenen in den Weiterbildungen besprochen werden.
Die sogenannte Implementierung, also die Übertragung der Modelle und Konzepte in den Alltag, wird jedoch meistens auf der höchsten Ausbildungsstufe, sprich auf MAS, CAS, Höhere Fachprüfung, angeschaut. In der Regel erfolgt dann bestenfalls über einige Monate eine Begleitung durch Fachpersonen.
Der eigene person-zentrierte Beitrag in der Betreuung und Pflege, zum Beispiel die Kinästhetik-Trainerin im richtigen Moment einzubeziehen, ist eine hochanspruchsvolle Aufgabe, die eine Unterstützung durch Pflegeexpert:innen erfordert. Das Holen und Einfordern von Unterstützung ist teilweise nur informell in den Teams geregelt. Diese Einschätzung lässt sich einerseits gut mit Ergebnissen anderer Kollegen:innen aus der Pflegewissenschaft belegen. Andererseits wird diese Einschätzung durch die Begeisterung für unsere person-zentrierte Interventionen in der IPOS-Dem Studie dokumentiert.

Eine wohlwollende, aufgeschlossene Haltung
 in der Beziehungspflege zu Angehörigen und
Freunden ist wichtig.

Prof. Dr. A. Koppitz

Die Angehörigen sind für die Pflege wichtige Bezugspersonen, um u.a. auch die persönliche Biografie in den Alltag einfliessen zu lassen. Wie empfehlen Sie als Fachperson die Angehörigen mit ins Boot zu holen? Gibt es hierzu auch wissenschaftliche Erkenntnisse?
Prof. Koppitz: Grundlegendes Werk, das wir hierzu hervorheben können, ist das so genannte Calgary Modell von Wright & Leahey: Die beiden Autor:innen betonen die Wichtigkeit einer wohlwollenden, aufgeschlossenen Haltung gegenüber Freunden und Angehörigen. Sie bieten ein umfassendes Konzept zur Aufnahme eines Familien-Assessments und von biografischen Daten an. Es wird ein guter Überblick ermöglicht, um die meist unterschiedlichen Wertvorstellungen und Normen in der Familie zu navigieren. Diese familiären Wertvorstellungen und Normen sind notabene häufig Herausforderungen in der Entscheidungsfindung und Pflege-/Behandlungsplanung.

Frank Spichiger: Ich möchte gerne ergänzen und Ihnen noch weitere Hinweise geben. Vergessen Sie nicht, wie belastend und stigmatisierend Angehörige mit einer Demenzdiagnose oder kognitiven Einschränkungen im Allgemeinen von den Familien und Freunden wahrgenommen werden können. Zudem kann die Biografie und Geschichte innerhalb der Familie für Familienmitglieder und Freunde belastend sein. Und letztendlich sollte man sehr achtsam mit dem bei Angehörigen auftretenden Schuldgefühlen umgehen, denn es kann unter Umständen als persönliche Niederlage empfunden werden, wenn die Pflege zu Hause zu belastend empfunden und ein Übertritt in ein Heim notwendig wird.

Die Pflege und Betreuung schwer demenzerkrankter Menschen ist häufig belastend für die Mitarbeitenden, insbesondere, wenn repetitive Bedürfnisse seitens des Bewohnenden an den Tag gelegt werden. Welche Empfehlungen sprechen Sie aus, damit Mitarbeitende nicht ausbrennen und eine bessere Resilienz zu verzeichnen ist?
Prof. Koppitz: Gerne stellen Herr Spichiger und ich ein weiteres Modell vor, die mäeutische Pflege für Menschen mit Demenz. Ein Kernbestandteil des Modells ist die Reflektion von so genannten «gelungenen Momenten».

Wir tendieren dazu negative Erfahrungen im Alltag stärker zu gewichten. Die Idee vom «Gutem» auszugehen hilft, sich von negativen Erfahrungen zu lösen, ist aber tatsächlich eine anspruchsvolle Übung. Im Alltag helfen möglicherweise Rituale, die wir auch aus der End-of-Life-Care bei Menschen mit Krebserkrankungen kennen:

Sprechen Sie im Team und oder mit Fachpersonen und anerkennen Sie, dass Situationen moralisch, emotional, physisch und spirituell herausfordernd sind.
Hören Sie anderen Menschen mit ähnlichen Erfahrungen zu und lernen Sie, wie diese damit umgehen.
Probieren Sie verschiedene Strategien aus, denn es ist sehr individuell, was bei einem selbst funktioniert. Mögliche Strategien sind zum Beispiel ein Dankbarkeits-Journal zu schreiben oder zu zeichnen, Sport zu treiben oder zu lesen.

„Schaffen Sie bewusst gelungene Momente und reflektieren Sie diese.“

prof. Dr. A. Koppitz

Frank Spichiger: Als ich noch im Zürcher Lighthouse arbeitete, bin ich abends, bevor ich die Institution verlassen habe, immer meine persönliche Checkliste durchgegangen:

  • Einen Moment über die Schicht nachdenken.
  • Eine Sache, die schwierig war, aussuchen und bewusst «loslassen».
  • Stolz auf die Pflege und Betreuung sein, die ich heute geleistet habe.
  • Drei Momente, die richtig gut waren, erinnern.
  • Kolleg:innen danken oder besser: konkret für einen Moment Loben. Fragen, ob sie OK sind.
  • Bist du OK? Sonst mit jemandem drüber sprechen und zwar jetzt. Sonst besteht die Gefahr, dass ich das belastende Gefühl mit in den Feierabend nehme.
  • Wechsle deine Aufmerksamkeit ins Private: Ausruhen und Aufladen

Wir haben an der IPOS-Dem Studie teilgenommen und mit Ihnen und den Angehörigen gemeinsam Evaluationen zu demenzerkrankten Bewohnenden durchgeführt. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse haben Sie gewonnen und wie leiten Sie diese in unser praktisches Handeln ab?
Prof. Koppitz: Die Studie läuft noch und damit auch noch die Datensammlung und -analyse. Jetzt bereits von Ergebnissen zu berichten, ist (leider) verfrüht. Wir gewinnen mit dieser Studie umfassende Langzeitdaten über die Intensität, Bedürfnisse und Bedenken in der Pflege von Menschen mit Demenz im Heim. Eingeschlossen sind ca. 250 demenzerkrankte Menschen aus der ganzen Deutschschweiz.

Die IPOS-Dem Studie wird mit einer «Treppenstufentestung», Stepped-Wedge Cluster Randomised Trial, durchgeführt: Wir sehen, dass dieses Design, also die Organisation des Forschungsprojektes für eine Studie mit Pflegeheimen, ziemlich gut funktioniert.

Mit den Ergebnissen können wir gemeinsam mit den Heimen Weiterbildungen und kommende Forschungsprojekte bedürfnisgerechter konzipieren und ausrichten.

Wenn Sie nach vorne blicken: wohin wird sich die Demenzforschung entwickeln und was würden Sie uns als lernende Organisation mit auf den Weg geben?
Prof. Koppitz: Wir sehen eine klare Entwicklungstendenz:Menschen mit Demenz und Angehörige werden integraler Bestandteil eines Forschungsteams sein. Wir haben gelernt, dass die Arbeit mit Angehörigen flexible Abläufe und Planungen vorrausetzt. Freunde und Familien von Menschen mit Demenz signalisieren ein grosses Bedürfnis bei der Betreuung und Behandlung zu kollaborieren. Dies möchten wir nutzen und würdigen, indem wir vermehrt die «Benutzer:innen» und «Subjekte» unserer Forschung in den gesamten Prozess einbinden, wie oben bereits angetönt.

Auf die Heime bezogen gilt der Ansatz der lernenden Organisation: Fort- und Weiterbildung als wichtige Elemente der Personalentwicklung müssen für das Implementieren von neuem pflegerischen Wissen neu gedacht werden. Praxisbetriebe, also zum Beispiel Pflegeinstitutionen und Wissenschaft, namentlich Hochschulen, müssen lernen, viel häufiger beim Implementieren von neuem Wissen zusammenzuarbeiten. Das erfordert Mut: Mut zur Offenheit, Mut neue Wege zu Gehen.

Vielen Dank für das interessante Gespräch und die aufschlussreichen Antworten!

Prof. ZFH, Dr. rer. medic., Diabetesberaterin DDG,
RN, HES-SO
Fachhochschule Westschweiz, HedS-Fribourg
Doktorand bei Prof. Koppitz und Prof Larkin (UNIL)
RN, HES-SO,
Fachhochschule Westschweiz, HedS-Fribourg

Mit der IPOS-Dem Studie wird die Lebensqualität von Menschen mit Demenz in Pflegeinstitutionen aus Sicht von Mitarbeiter:innen und Angehörigen systematisch eingeschätzt. Die Fallbesprechung erfolgt interdisziplinär. Die Ergebnisse fliessen in verbesserte Pflege-, Therapie- und Medikationspläne zusammen. Sowohl bei der Erhebung, als auch den regelmässigen Fallbesprechungen sind alle Mitarbeitenden der Pflege und Betreuung sowie die Angehörigen der Menschen mit Demenz involviert.

Das Gespräch führte Simone Mayer-Jacober, Leiterin Kommunikation & Marketing Lindenfeld

Bildrechte: Prof. A. Koppitz, FH Westschweiz