21
Jun

Non-verbal ganz viel zum Ausdruck bringen – wichtiger Perspektivenwechsel im Alltag

Leiterin Kommunikation & Marketing unterstützt die Demenzpflege und nimmt ganz viel Neues und wichtige Erkenntnisse in ihren Alltag, um den Herzschlag des Lindenfelds immer gut spüren zu können.

Es ist ein besonderer Dienstagvormittag für mich, denn ich darf während zwei Stunden Sindi Taner, Co-Leiterin des geschützten Wohnbereichs Aabach (Wohnbereich für demenzerkrankte Menschen mit hohem Pflegebedarf) begleiten und sie in einigen Arbeitsabläufen unterstützen. Dieser Perspektivenwechsel ist für mich in meiner Funktion als Leiterin Kommunikation & Marketing sehr wichtig, denn ich möchte den Pflegealltag mitmachen und die Nuancen sowie die verschiedenen Fachbereiche verstehen lernen.
Wir besuchen Frau M., eine Bewohnerin in der Oase, wo Menschen mit besonderen Bedürfnissen leben – denn bei ihnen ist die Demenz sehr weit fortgeschritten. Vorsichtig berührt Sindi Frau M.’s Schulter und begrüsst sie in einem ruhigen Tonfall. Sie habe heute noch jemanden mitgebracht, sagt Sindi, und ich stelle mich ebenfalls vor. Die Bewohnerin öffnet ihre Augen nicht. „Frau M. hat eine sehr hohe Körperspannung“, erklärt mir Sindi. Wir versuchen hier mit Kinästhetik die Verspannungen vorsichtig zu lösen, damit wir sie pflegen und anziehen können.“ Ich erfahre, dass unsere Bewohnerin ein sehr aktives Leben hatte, gerne in der Natur und vor allem in ihrem Garten war. Zeit zum Ausruhen hat sie sich anscheinend selten genommen. Die Kenntnis um die Biografie ist insbesondere bei Menschen, die sich selber nicht mehr ausdrücken können, äusserst wichtig. Sie unterstützen Sindi und mich nun auch in der Pflege der Bewohnerin.

Die Körpersprache sagt mir, was ich tun darf

Vorsichtig nehme ich Frau M.‘s Hand in die meine. Sie umfasst sie, hält mich fest umklammert. Mit sachten Bewegungen versuche ich ihre Finger zu lösen, damit ich sie mit einem warmen Waschlappen waschen kann. Das gelingt mir ganz gut, obwohl ich gestehen muss, dass es bei Sindi sehr viel einfacher aussieht. Frau M. kommuniziert nur noch non-verbal; ich achte deshalb sehr genau auf ihren Gesichtsausdruck. Wirklich gern scheint sie es nicht zu haben. Ich versuche ihr zu erklären, was ich mache. Kommt das gut und richtig an?
Sindi beobachtet mich wohlwollend, gibt mir zu verstehen, dass ich nichts falsch machen kann. Ihre ruhige Art tut auch mir gut, ich spüre und sehe, dass sich Frau M. langsam entspannt. Sindi spricht mit ihr, erklärt, was wir als nächstes tun. „Menschen in der Oase können wir nicht nach einem fixen Pflegeplan pflegen“, erklärt mir die erfahrene Pflegefachfrau. „Sie geben uns auf ihre Art zu verstehen, wie weit wir gehen dürfen, wo sie ihre Grenzen haben und wann sie eine Pause benötigen. Zeitdruck darf es hier nicht geben, denn das sorgt für Unruhe, und unser Ziel in der Demenzpflege ist ja genau das Gegenteil.“
Frau M. öffnet die Augen, schaut mich an. Ich wünsche ihr einen guten Morgen und bedanke mich bei ihr, dass sie so gut bei unserer Morgenpflege mitmacht. Ich streichle ihr sanft über den Kopf, nehme derart wieder Kontakt zu ihr auf, damit meine nächsten Arbeitsschritte nicht aus dem Nichts kommen.

Mobilisation dank Kinaesthetics

Sindi besuchte die Lindenfeld-internen Weiterbildungen in Kinaesthetics und bewegt Frau M. sehr gekonnt, damit es uns gelingt, Frau M. anzuziehen und sie zum Schluss in den Rollstuhl zu setzen. Ich bin beeindruckt und beobachte wie gebannt, wie sie die hochbetagte Frau so gut in Bewegung bringen kann, dass sie gewisse Abläufe fast autonom mitmacht. Schritt für Schritt bringt Sindi Frau M. via der Bauchlage zum Stehen ausserhalb des Bettes und in den von mir bereitgestellten Rollstuhl.
„Gut gemacht, Frau M.,“, lobt Sindi die Bewohnerin. „Jetzt können wir mit Ihnen ins Stübli fahren.“ Ob ich ihr noch die Haare bürsten dürfe, frage ich. Sindi nickt zustimmend, derweil sie Frau M. ihre Kleidung noch ein wenig zurecht zupft.

Auf den Menschen und seine Bedürfnisse fokussiert

Fast eine Stunde später fahren wir gemeinsam mit Frau M. in das gut besuchte Stübli auf dem Wohnbereich. Hier hat ein jeder Mensch seine ganz individuellen Bedürfnisse. Es gibt kein Schema, denn ein Schema lässt sich nicht über ein Individuum stülpen. Mir wird bewusst, dass dieser Aspekt den Pflegealltag sehr aufwendig gestaltet, denn im Lindenfeld gilt der 24-Stunden-Ansatz. Das bedeutet, dass die Pflegemitarbeitenden den persönlichen Rhythmus des jeweiligen Bewohnenden so gut wie möglich in den Alltag inkludieren: Möchte ein Bewohner zum Beispiel erst nach dem Frühstück gewaschen werden, wird das akzeptiert. Schläft eine Bewohnerin lieber länger, weil sie früher diesen Rhythmus hatte, wird das berücksichtigt und sie wird nicht geweckt. Ebenso ist der Einbezug des gesamten Familiensystems eine wichtige Philosophie hier im Lindenfeld. Es wird in gemeinsamen Standortgesprächen erläutert, was wie und warum gemacht wird (oder eben nicht). Die Wahrung der Autonomie, zum Beispiel ein ausgeprägter Bewegungsdran, wird unter-stützt. Der Mensch soll sich in seinem Tun im Hier und Jetzt wohlfühlen und bestärkt werden. Das verlangt viel Empathie, Wissen und Weitsicht von den Pflegenden.
Die ständige Wachsamkeit ist deshalb essentiell, um gute Demenzpflege machen zu können, erklärt mir Sindi in einem ruhigen Moment. „Wie lange wird Frau M. nun im Stübli bleiben? An was machst du fest, dass sie sich nicht mehr wohlfühlt, wo sie sich ja nicht mehr verbal artikulieren kann?“ „Wir beobachten sie. Frau M. drückt sich zum Beispiel mit ihren Augen aus oder zuckt mit den Armen. Dann nehmen wir sie zuerst wieder in ihr Zimmer, wo sie zur Ruhe kommen kann. Wichtig ist, dass wir nicht zu viel reden, denn sie befindet sich unter Umständen gerade in einem Moment des Unwohlseins. Dieses Gefühl müssen wir erst einmal entspannen. Anhand ihrer Reaktion können wir feststellen, ob der Raumwechsel bereits das Bedürfnis gestillt hat oder ob es noch etwas anderes ist, was sie in diesem Moment stört.“

Mit einem Lächeln belohnt werden

Sindi führt mich durchs Stübli. Wir gehen zu anderen anwesenden Bewohnenden. Ich laufe zu einer Dame, die ich schon des Öfteren gesehen habe, an den Tisch und sie redet in ihrer ganz eigenen Sprache auf mich ein. Verstehen tue ich sie leider nicht. Ich bemerke, dass auch sie ein blaues Oberteil trägt und so deute ich auf sie und mich und sage, „schauen Sie, wir beide sind heute in Blau“. Sie lacht laut auf und fährt dann aber in ihrem Wortschwall weiter. Ob sie mich verstanden hat?
Ich merke, dass ich mich langsam verabschieden muss, denn die Zeit ist verflogen. Es fällt mir fast ein wenig schwer. Ich knie mich vor den Rollstuhl von Frau M. und sage ihr Adieu. Plötzlich lacht sie mich an, und das ist das schönste Geschenk, das ich an diesem Vormittag erhalten habe.

Danke, Sindi, dass ich dich in deinem Alltag ein wenig begleiten durfte. Es hat mir sehr viel bedeutet und zeigt, wie nahe ihr am Menschen seid.

Simone Mayer-Jacober, Leiterin Kommunikation & Marketing