03
Mai

Wo Sprache nicht mehr weiterkommt, öffnet Musik Türen

Ruth Vögtli ist seit Anfang März in einem 20% Pensum im Lindenfeld als Musiktherapeutin angestellt. Im Gespräch mit ihr möchte ich herausfinden, was eine Musiktherapeutin macht, was Musik bei uns Menschen auslöst und wie unsere Bewohnenden auf diese Therapieform reagieren.
Viel Freude beim Lesen und Eintauchen in die Musikwelt von Ruth Vögtli!


S. Mayer: Wie führte dein Weg ins Lindenfeld?
R. Vögtli: Ich bin in der Region aufgewachsen. Als Jugendliche habe ich bereits einmal im Lindenfeld gearbeitet und einen Ferienjob angenommen, daher kenne ich das Lindenfeld schon sehr lange. Im Rahmen meiner Musiktherapieausbildung habe ich im Pflegezentrum Reusspark ein Praktikum gemacht. Dabei habe ich die musiktherapeutische Arbeit mit älteren Menschen als beglückend und wertvoll erlebt. Und so freute es mich sehr, dass das Lindenfeld auf meine Anfrage positiv reagiert und die Musiktherapie wieder aktiviert hat.

S. Mayer: Welche Schwerpunkte legst du als Musiktherapeutin in einer Pflegeinstitution?
R. Vögtli: Hier lege ich die Schwerpunkte auf die Erhaltung der Lebensqualität, das Wohlbefinden und die Biografiearbeit. Gerade da, wo Sprache an ihre Grenzen kommt, kann Musik Türen öffnen und die nicht mehr ganz einfache Kommunikation erleichtern. Ausserdem kann Musik wunderbar Atmosphäre und Stimmung schaffen, darauf reagieren gerade  Menschen mit Demenz sehr sensibel.

S. Mayer: Sind es hauptsächlich Menschen mit Demenz, die zu dir kommen oder ist es ein Angebot, das für alle offen ist?
R. Vögtli: Da bin ich offen. Musiktherapie sollte grundsätzlich allen Bewohnenden zugänglich sein. Auch braucht es dafür keine musikalischen Vorkenntnisse.

Wichtige biografische Informationen zu den Bewohnenden

S. Mayer: Kannst du mir bitte ganz spontan ein Beispiel schildern, zu deiner Aussage, dort, wo Kommunikation an ihre Grenze kommt, macht Musik eine Türe auf?
R. Vögtli: Da kommt mir Herr S. in den Sinn: Bei unserer ersten Begegnung wusste ich noch nicht viel über ihn. Er hatte Mühe sich zu artikulieren, das Geäusserte war kaum verständlich. Einzelne Wortfetzen wie z.B. „Trompete“ und „Armstrong“ habe ich aufgegriffen und ihm daraufhin ein Musikstück (Spotify) von Louis Armstrong vorgespielt. Herr S. reagierte sofort darauf. Er lächelte, schloss die Augen und spielte mit seinen Fingern auf einer imaginären Trompete. Später konnte er mir mitteilen, dass er früher in einer Blasmusik Trompete gespielt habe, selber in New Orleans war und dort Jazz gehört habe. Ich denke, Musik war uns Brücke und Türöffner – ohne diese hätte ich wohl schwerlich den Zugang zum Bewohner gefunden.

„Er lächelte und spielte imaginär mit seinen Fingern Trompete.“

R. Vögtli

S. Mayer: Und gibt es ein weiteres Beispiel mit einem Bewohnenden, der nicht dement war?
R. Vögtli: Ja, Frau W. Sie hat mir im ersten Gespräch mitgeteilt, dass sie Musik schon immer geliebt und Klavier und Gitarre gespielt habe. Neugierig und sehr geschickt probierte sie sogleich verschiedenste angebotene Instrumente aus. Ausserdem erzählte sie, dass sie in jungen Jahren in einem Gospelchor gesungen habe. Also stimmten wir gemeinsam «Oh happy Day» an, das sie aus ganzem Herzen sang. Dies öffnete die Tür und Frau W. erzählte mir, dass sie die schöne Gemeinschaft vermisse – dieses Gefühl erlebte sie sehr stark in der Chorgemein­schaft. Hier fühle sie sich manchmal einsam.

Musiktherapie ist ressourcenorientiert

S. Mayer: Wie sieht eigentlich eine Musiktherapie mit einer Bewohnerin, mit einem Bewohner generell aus? Wie muss ich mir eine Sitzung vorstellen? Was ist wichtig?
R. Vögtli: Musiktherapie ist ressourcenorientiert. Es geht nicht darum, ein Instrument richtig oder falsch zu spielen. Es gibt keine schrägen Töne, sondern jeder Ausdruck ist willkommen. Das ist verständlicherweise für die Bewohnenden manchmal neu und ungewohnt. Darum ist es wichtig, dass ich ganz individuell auf den einzelnen Bewohnenden und seine Bedürfnisse eingehen kann. Braucht mein Gegenüber heute Aktivierung oder eher Ruhe und Entspannung, Herausforderung oder Bestätigung?

Besonders schön finde ich das gemeinsame Singen von Lieblingsliedern. Gerade für Menschen mit Demenz ist dies sehr wichtig, denn beim Singen erleben sie oft kleine Wunder: meistens sind sie selber ganz erstaunt, dass sie sich problemlos an alle vier Strophen eines Liedes erinnern können, wo sie doch die Namen ihrer Angehörigen längst vergessen haben. Das Erfolgserlebnis «Das kann ich ja noch!» stärkt Identität und Selbstvertrauen. Ihre Freude darüber ist offensichtlich und ansteckend.
Einzeltherapien führe ich hier in diesem Raum durch oder wenn die Bewohnenden nicht mehr mobil sind, nehme ich ein paar Instrumente mit und bringe die Musik in ihr Zimmer. Manchmal setze ich auch ein ausgewähltes Musikstück von Spotify ein, das dem Bewohnenden viel bedeutet.

Manchmal huscht ein Lächeln über die Lippen.

R. Vögtli


In der nächsten Zeit plane ich eine therapeutische Gruppe, die sich alle zwei Wochen zum gemeinsamen Singen, Musikhören und Musizieren trifft. Auch möchte ich meine musikalischen Streifzüge auf die verschiedenen Wohnbereiche ausdehnen.
Magst du noch ein paar konkrete Beispiele hören?

Bei Frau I. ist die sprachliche Verständigung gar nicht mehr möglich. Aus ihrer Biografie  weiss ich, dass sie früher Flötenlehrerin war. Wenn ich ihr leise Flötenmusik spiele, erkenne ich oft eine unmittelbare Reaktion: sie öffnet die Augen oder dreht den Kopf in die Richtung der Musik, manchmal huscht ein Lächeln über ihre Lippen oder sie hört ganz aufmerksam zu. Ihr Atem wird regelmässiger, ihre Anspannung kleiner.

Frau R. hat kürzlich ihren Ehemann verloren. Sie vermisst ihn – und auch ihre Lebensfreude. Im Gespräch mit mir wünscht sie sich, dass wir gemeinsam ein Trostlied singen, das ihr Kraft gibt. Sie fragt, ob wir dies nächste Woche wiederholen könnten.

Frau Z. ist mobil und kann zu mir in den Musikraum kommen. Die letzten Male ist sie jedoch nicht erschienen, darum habe ich sie in ihrem Zimmer besucht. Ich habe sie missmutig und angespannt im Bett vorgefunden, und sie teilte mir mit, dass sie heute keine Musik machen wolle. Ich fragte, ob ich ihr ein Lied singen dürfe, was sie bejahte. Sie entspannte sich und war am Ende des Liedes eingeschlafen. Du siehst, je nach Bewohner gestaltet sich die Musiktherapie ganz anders und individuell.

Musik aktiviert das Gehirn

S. Mayer: Welche Wirkung hat Musik auf uns Menschen?
R. Vögtli: Das spannende ist, dass Musik immer eine Wirkung auf uns Menschen hat. Musik kann beruhigen, aktivieren, stärken, trösten, bewegen, verbinden, Fantasie anregen, Ängste und Schmerzen lindern, Emotionen und Erinnerungen hervorrufen. Es können auch unmittelbare körperliche Wirkungen auf Atem, Puls, Blutdruck oder Körperspannung  festgestellt werden. Und was dabei in unserem Kopf geschieht – selbst Wissenschaftler staunen immer wieder, wie viele Areale in unserem Gehirn durch Musik aktiviert werden!

S. Mayer: Planst du auch kleinere Darbietungen im Lindenfeld?
R. Vögtli: Ein interessanter Gedanke… doch als Musiktherapeutin setze ich die Musik in erster Linie therapeutisch für die Bewohnenden ein. Es würde wohl auch knapp mit der Planung, da ich im Lindenfeld nur einen Tag pro Woche anwesend bin.

S. Mayer: Ich danke dir, Ruth, für diese spannenden Ausführungen, die mir viele neue Erkenntnisse gegeben haben. Auch waren deine Beispiele sehr berührend.

Das Gespräch führte Simone Mayer-Jacober, Leiterin Kommunikation & Marketing im Lindenfeld